Ein weiterer Artikel aus dem Cicero: Mehrere Soldaten der Bundeswehr klagen derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die verpflichtende Corona-Impfung. Denn die einrichtungsbezogene Impfpflicht, die vom Bundestag beschlossen wurde, gilt nicht nur für Pflegeberufe, sondern auch in der Bundeswehr. Dabei sind sämtliche Argumente für eine solche berufsspezifische Impfpflicht längst widerlegt.
Gegner der Impfpflicht für Pflegeberufe demonstrieren am 1. Mai / dpa
Als das Gesetz über die einrichtungsbezogene Impfpflicht verabschiedet wurde, wurde es als Vorstufe zu einer allgemeinen Impfpflicht (ab 18, 50 oder einer anderen Altersgrenze) wahrgenommen. Eine Vollstufe dieser Vorstufe wurde aber nicht erreicht. Allein diese Tatsache macht die einrichtungsbezogene Impfpflicht sinnlos. Meine Ausführungen beziehen sich zwar auf das gesamte medizinische Personal, gelten aber mit geringfügigen Modifikationen auch für andere betroffene Berufe.
In zahlreichen Nachgesprächen über die geplante allgemeine Impfpflicht und die Abstimmung im Bundestag am 7. April erscheint immer wieder das Thema Herdenimmunität und die für deren Erreichen (angeblich oder tatsächlich) notwendige Impfquote. Soweit ich weiß, haben die Abgeordneten, die ihre Stimme für die allgemeine Impfpflicht abgaben, in den Gesprächen und der Korrespondenz mit ihren Wählern ihre Entscheidung sehr häufig mit diesem Argument untermauert.
Bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht fällt dieser Grund vollkommen aus. Die noch nicht geimpften beruflichen Impfpflichtigen stellen einen viel zu kleinen Anteil der Bevölkerung dar. Ihr potentieller Beitrag zur allgemeinen Impfquote ist winzig.
Geimpfte sogar gefährlicher als Ungeimpfte
Als Hauptargument für die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird behauptet, die ungeimpften Personen im Medizinbereich könnten andere, vulnerable Personen (Patienten) mit dem Sars-Cov-2-Virus anstecken. Die Vermutung hätte höchstens in der ersten Jahreshälfte von 2021 einen Sinn haben können. Bei den Alpha- und Beta-Virusvarianten bestand mindestens drei bis fünf Monate nach einer Impfung ein gewisser Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften bezüglich der Wahrscheinlichkeit, andere Personen anzustecken. Aber schon für die Delta-Variante war dieser Unterschied minimal und hielt nicht mehr lange. Die Mutanten, die heute das epidemische Geschehen dominieren, werden von Geimpften und Ungeimpften vom Anfang an mit gleicher Wahrscheinlichkeit übertragen; mit der Zeit, wie die Daten der zuständigen britischen Behörde UKSHA zeigen, werden die geimpften Personen für ihre Mitmenschen sogar gefährlicher als die Ungeimpften.
An dieser Stelle wird oft gesagt, dass die Impfpflicht möglicherweise später notwendig sein könnte, wenn neue, gefährlichere Virusstamme erscheinen und wenn auch neue Arten von Impfstoffen entwickelt würden, die gegen jene neuen Varianten hochwirksam sein würden. Das Problem an diesem Satz ist der Überschuss an Konjunktiven. In der Tat ist in der Zukunft alles möglich. Man kann nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass sich neue, völlig unbekannte Erreger mit unbekannten Eigenschaften verbreiten. Ebenso kann man nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass in der Zukunft ein Durchbruch in der Impfforschung erzielt wird, mit dem wir Vakzine bekommen, die im Unterschied zu den gegenwärtigen ihre Wirkung nicht nach wenigen Wochen bis Monaten verlieren und sich sogar an die künftigen, noch unbekannten Mutationen des Erregers anpassen können. Doch wäre es im höchsten Maße ungewöhnlich, wenn wir heute Grundrechte unserer Bürger schwer einschränken aufgrund künftiger Ereignisse, von denen wir lediglich wissen, dass sie nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden können. Noch schwieriger ist der Logik zu folgen, warum diese Bürger schon jetzt mit den vorhandenen Impfstoffen gegen vergangene Krankheiten geimpft werden müssen, weil in der Zukunft andere, wirksamere Impfstoffe gegen neue Erkrankungen entstehen könnten.
Medizinisches Personal spielt so gut wie keine Rolle bei der Virusübertragung
Trotz der verhältnismäßig höheren Fremdschutzwirkung der Impfstoffe 2021 im Vergleich mit diesem Jahr war vor dem 15. März 2022 kein einziger Fall bekannt, in dem ein ungeimpfter Mediziner in deutschen medizinischen Einrichtungen einen Covid-Ausbruch ausgelöst hätte. Daher ist völlig unklar, warum es solche Fälle nach dem 15. März geben sollte. Auf die Frage, warum das medizinische Personal in Deutschland so gut wie keine Rolle bei der Virusübertragung – trotz der Vulnerabilität ihrer Kontakte! – gespielt hat, gibt es eine sehr einfache Antwort: Weil diese Menschen Profis sind. Sie sind hochqualifiziert, erfahren, gewissenhaft und kennen sich mit hygienischen Regeln bestens aus. So einfach ist’s. Ob geimpft oder ungeimpft, besitzen sie diese Eigenschaften nach wie vor dem 15. März.
Deshalb sollte unser primäres Ziel sein, wenn wir uns wirklich wegen der Ansteckungsgefahr Sorgen machen, das Erschaffen und Unterhalten von Bedingungen, unter denen notwendige hygienische Maßnahmen nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind. Die wichtigste dieser Bedingungen ist eine reichhaltige Personalsituation. Die Lage sollte so sein, dass ein paar Mitarbeiter mit Atemwegsinfekten (egal, ob von Corona- oder anderen respiratorischen Viren ausgelöst) oder mit positiven Testergebnissen ein paar Tage zu Hause bleiben können, ohne dass das Krankenhaus sofort in eine Personalnot gerät. Die Ärzte und das gesamte Pflegepersonal sollten ohne Zeitdruck arbeiten können, damit sie nicht bei hygienischen Maßnahmen Zeit sparen müssen. All das ist genau das Gegenteil der Tendenz der letzten Jahrzehnte, in denen Klinikmanager miteinander um den Titel des Weltmeisters im Personalsparen wetteiferten.
Eine andere häufig diskutierte Begründung für die einrichtungsbezogene Impfpflicht besteht darin, dass die ungeimpften Personen selbst erkranken, womit sie die Funktionsfähigkeit ihrer Einrichtung schwächen. Auch diese Vermutung entbehrt jeder faktischen Grundlage: Zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Impfkampagne war die Morbidität ungeimpfter Mitarbeiter im medizinischen Bereich signifikant höher als die der geimpften. Im Gegenteil übernahm das ungeimpfte Personal oft die ganze Arbeitslast, wenn die geimpften Kollegen einige Tage nach der Impfung arbeitsunfähig waren.
Der Nutzen ist nicht ersichtlich, der Schaden immens
Außerdem ist dieses Argument selbstvernichtend. Angenommen, die ungeimpften Mitarbeiter würden krankheitsbedingt 10% ihrer Arbeitszeit fehlen. Wenn sie nun wegen Impfunwilligkeit vom Dienst suspendiert werden, fehlen sie 100% ihrer Arbeitszeit. Und wenn sie kündigen, so findet der Personalmanager vor seiner Tür keine Warteschlange von Mitarbeitern vergleichbarer Qualifikation.
Während der Nutzen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nicht ersichtlich ist, ist der Schaden immens. Die Schwere des Eingriffs in die persönlichen Rechte der Betroffenen steht in keinem Verhältnis zu den rein hypothetischen, mit keinen Fakten begründeten Gefahren, die dadurch angeblich abgewendet werden. Die körperliche Unversehrtheit ist die absolute Vorbedingung aller anderen Grundrechte, ohne die Demonstrations-, Meinungs- und sonstige Freiheiten keinen Cent wert sind. Da die Überwindung der eventuellen Vorurteile durch Zwang noch nie in der Geschichte gelang und (Gott sei Dank) nie gelingen wird, kann man sicher sein, dass sich die überwiegende Mehrheit der Betroffenen auch unter der Impfpflicht nicht impfen lässt.
Die Erfahrung der berufsbezogenen Impfpflicht in den Nachbarländern zeigt, dass die Leidtragenden vor allem kranke Menschen sind. In Frankreich mussten mehrere nächtliche Notaufnahmen wegen des Personalmangels geschlossen werden; Patienten mit einem akuten Herzinfarkt mussten 70 Kilometer zur nächsten Notfallaufnahme fahren und dort in einer Schlange warten. In Anbetracht der in deutschen Krankenhäusern, und insbesondere im Intensivbereich, bereits wütenden Personalnot können wir in wenigen Monaten eine noch schlimmere Lage bekommen. Wenn jetzt unsere Patienten noch nicht in den Warteschlangen sterben, so müssen sie dafür den bürokratischen Hürden dankbar sein, die die tatsächliche Einführung der Impfpflicht gegenüber deren de jure Inkrafttreten verzögern.
Dieselben Menschen, die als „Gesundheitshelden“ gefeiert wurden, werden jetzt diskriminiert
Mehrere Hunderttausend hochqualifizierte Personen werden vom Staat wegen der fehlenden Konformität mit der Mehrheitsmeinung offiziell ausgegrenzt. Es sind zum großen Teil dieselben Menschen, die die ganze Last der zwei Jahre Pandemie und der Lockdowns geschultert haben und erst vor einem Jahr als „Gesundheitshelden“ gefeiert wurden. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland verhältnismäßig gut diese Zeit überstanden hat. Nicht nur bei diesen Personen, sondern auch im breiten Kreis ihrer Kollegen und Freunde wird das Vertrauen in die Demokratie erschüttert. Wer glaubt, das Personal könnte schnell durch andere, vielleicht eingewanderte Mediziner und Pflegekräfte ersetzt werden, hat eine Vorstellung von Menschen in einer Gesellschaft wie Rädchen in einer Maschine: Funktioniert ein Rädchen falsch, wird es entsorgt und durch ein anderes ersetzt. Dieses Menschenbild ist nicht nur unethisch, sondern auch unpraktisch: Eine Gesellschaft, die darauf beruht, ist zum schnellen Untergang verurteilt.
Die zwischen 1945 und 2021 undenkbare Erklärung einer großen Kategorie von Bürgern wegen ihrer abweichenden Überzeugungen zu „Menschen zweiter Klasse“ läuft Gefahr, eine Blaupause zu werden. Der heutige Befürworter der einrichtungsbezogenen Impfpflicht könnte sich darüber Gedanken machen, ob er nicht auch eines Tages vielleicht eine Mehrheitsmeinung aus persönlichen Gründen ablehnen könnte. Er darf sich dann nicht wundern, wenn auch seine Grundrechte aufgrund ein paar unbewiesener wissenschaftlicher Hypothesen radikal beschnitten werden und er seine Arbeit ohne Entschädigung, ohne Arbeitslosengeld, ohne Sozialhilfe verlieren wird.
Die sinnlose, gesellschaftsschädigende einrichtungsbezogene Impfpflicht muss sofort abgeschafft werden, solange das Unheil noch reparabel ist.
VON BORIS KOTCHOUBEY am 2. Mai 2022
Autoreninfo
Boris Kotchoubey ist Professor am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen.